
Leben und Arbeiten mit Behinderung
Selbstbestimmtes Leben
für alle
„Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden.“
Dieser Satz wurde im Jahr 1994 in Artikel 3 des Grundgesetzes aufgenommen. Durch verschiedene Gesetze und Maßnahmen sollen Ungleichbehandlungen abgebaut werden. Ziel ist, dass Menschen mit Behinderungen selbstbestimmt leben können. Deutschland hat als einer der ersten Staaten 2009 die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen unterzeichnet.
Die Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) setzt sich für eine Beseitigung der Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen ein. Die UN-BRK fordert daher eine umfassende Inklusion, also die gleichberechtigte Teilhabe aller Menschen am gesellschaftlichen Leben. 180 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen haben sich bislang zur Behindertenrechtskonvention bekannt.
Mittendrin im Leben
Verschiedene Hindernisse können dazu führen, dass Menschen mit langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen nicht so selbstbestimmt wie andere Menschen leben, wohnen und arbeiten können. Diese Hindernisse werden auch Barrieren genannt. Sie können in Gebäuden und Verkehrsmitteln auftreten.
Auch Webseiten können Barrieren enthalten. Sie sind dann zum Beispiel nicht für blinde Menschen nutzbar. Ebenso können die Einstellungen von Menschen zum Hindernis werden, wenn beispielsweise Personalmanager*innen denken, dass Menschen mit Behinderungen generell keine gute Arbeit leisten können. Deswegen ist es wichtig, Barrieren abzubauen, damit Menschen mit körperlichen, seelischen, geistigen oder Sinnesbeeinträchtigungen ganz selbstverständlich überall dabei sein können. Dieses Dabeisein und Mitmachen in allen Lebenssituationen heißt Teilhabe.
Menschen mit Behinderungen können im Bedarfsfall Sach- oder Geldleistungen erhalten, die ihnen die Teilhabe erleichtern. Ob Umbau der Wohnung, Assistenzhund oder Ausstattung des Arbeitsplatzes – was zählt, ist, dass die Unterstützung passgenau ist und ein eigenständiges Leben ermöglicht. Dabei können Menschen mit Behinderungen selbst organisieren, was sie brauchen. Dafür gibt es das sogenannte Persönliche Budget.
Etwa acht Millionen Menschen mit einer Schwerbehinderung leben in Deutschland. Das sind etwa zehn Prozent der Bevölkerung. Von einer Schwerbehinderung spricht man, wenn von der zuständigen Behörde eingeschätzt wird, dass eine Person besonders schwerwiegende Probleme bei der Teilhabe hat. Ursache sind meist Krankheiten oder Unfälle, die im Laufe des Lebens auftreten. In nur drei Prozent der Fälle ist die Ursache einer Schwerbehinderung angeboren.

Der Arbeitsplatz
muss passen
Von den 3,2 Millionen schwerbehinderten Menschen im Alter von 15 bis 65 Jahren ist etwa die Hälfte erwerbstätig. Zum Vergleich: In der gesamten Bevölkerung sind es drei von vier Personen. Damit ist die sogenannte Erwerbsquote von Menschen mit Schwerbehinderung niedriger als die Erwerbsquote der Bevölkerung insgesamt.
Durch verschiedene Möglichkeiten der Unterstützung für Arbeitgeber*innen und Arbeitnehmer*innen ist die Zahl der schwerbehinderten Beschäftigten in den letzten Jahren aber gestiegen. Eine Anpassung der Arbeitsbedingungen an die Bedürfnisse der Arbeitnehmer*innen ist zum Beispiel durch technische Arbeitshilfen oder durch die Gestaltung der Arbeitszeit und Arbeitsorganisation möglich. So können beispielsweise die Aufgaben in einem Team so verteilt werden, dass jede*r die eigenen Stärken einbringen kann.
Die Mehrheit der schwerbehinderten Beschäftigten arbeitet auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt. Davon sind etwa zwei Drittel bei privaten Unternehmen tätig und ein Drittel im öffentlichen Dienst. Auch für Schulabgänger*innen mit Behinderungen gibt es bei Bedarf verschiedene Hilfen, damit sie eine Berufsausbildung oder ein Studium erfolgreich abschließen können.
Unternehmen in der Pflicht
Arbeitgeber*innen mit mindestens 20 Arbeitsplätzen sind gesetzlich verpflichtet, mindestens fünf Prozent der Arbeitsplätze mit Menschen zu besetzen, die eine Schwerbehinderung haben. Wird diese Beschäftigungspflicht nicht oder nicht vollständig erfüllt, müssen sie für jeden nicht besetzten Pflichtarbeitsplatz eine Ausgleichsabgabe zahlen. So will der Gesetzgeber die Integration auf dem Arbeitsmarkt voranbringen. Einige Behindertenverbände und Gewerkschaften finden die Abgabe grundsätzlich zu niedrig. Ihr Vorwurf: Firmen können sich zu leicht von der Verpflichtung „freikaufen“, Menschen mit Behinderung einzustellen.
Die Schwerbehindertenvertretung vertritt die Interessen der schwerbehinderten Beschäftigten im Unternehmen und achtet darauf, dass Arbeitgeber*innen ihren gesetzlichen Pflichten nachkommen. Hierzu gehört zum Beispiel die Überwachung der Beschäftigungspflicht. Arbeitgeber*innen bestimmen Inklusionsbeauftragte, die sie bei ihren Aufgaben unterstützen. Die Schwerbehindertenvertretung wird hingegen von den schwerbehinderten Beschäftigten selbst gewählt.
Die Mehrheit muss zahlen

„Viele Leute nehmen einen nicht für voll“

Der Inklusionsbeauftragte Drees Ringert (*1988) arbeitete erstmals 2008 für das Wacken-Open-Air. Das Heavy-Metal-Festival in Schleswig-Holstein war 2019 mit 75.000 Tickets zum 13. Mal in Folge ausverkauft.
Drees, du bist beim Veranstalter des Heavy-Metal-Festivals in Wacken nicht nur für das Sponsoring zuständig, sondern bist auch Inklusionsbeauftragter und sitzt selbst dauerhaft im Rollstuhl. Wie kam es dazu?
Ich wurde 2015 für den Bereich Sponsoring angestellt. Nach meinem Verkehrsunfall ein paar Monate später war es allerdings zeitlich nicht mehr möglich, diese Aufgabe allein zu bewerkstelligen. Deshalb haben wir inzwischen ein Team, das sich um unsere Sponsoren kümmert. Der Job als Inklusionsbeauftragter hat sich so mit der Zeit ergeben, da ich durch meine Behinderung selbst ein gutes Auge für Barrieren aller Art bekommen habe. Das ist sozusagen mein zweiter Job in der Firma.
Spürst du einen Unterschied in der Art, wie du von Geschäftspartnern vor und nach deinem Unfall behandelt wurdest?
In der Berufswelt weniger. Die meisten Kontakte entstehen erstmal per E-Mail oder per Telefon, sodass die Leute im Vorfeld gar nicht wissen, dass ich im Rollstuhl sitze. Im Nachhinein spielt das dann auch keine Rolle. Im Alltag ist es anders. Da muss man sich öfter behaupten, um respektiert zu werden. Viele Leute nehmen einen nicht für voll. Da muss man immer wieder Stärke zeigen.
Das Wacken-Open-Air arbeitet außer mit dir auch mit vielen anderen Menschen mit Behinderung zusammen. Warum?
Inklusion ist bei uns kein notwendiges Übel, sondern eine Herzensangelegenheit. Das bezieht sich einerseits darauf, dass wir allen Fans ermöglichen möchten, an unseren Events teilzunehmen. Andererseits wollen wir auch jedem Menschen ermöglichen, für uns zu arbeiten, wenn er dies möchte und kann.
Welche Aufgaben übernehmen deine Kolleg*innen mit Behinderung?
Sie arbeiten zum Beispiel im Ticketversand oder im Lager, wo es immer wieder Pakete zu packen gibt. Außerdem beschäftigen wir auch viele Menschen mit Behinderung während des Festivals. Sie halten unsere Eventstätten und das Dorf Wacken sauber.
Aus der Werkstatt
auf den Arbeitsmarkt
Je nach Art und Schwere der Behinderung kommt nicht für jede und jeden sofort eine Beschäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt infrage. Etwa 320.000 Menschen sind in einer Werkstatt für behinderte Menschen (WfbM) beschäftigt.
„Eingliederung muss gut vorbereitet sein.“
Meine Aufgabe ist es, Menschen mit geistigen, körperlichen oder psychischen Behinderungen aus unseren Werkstätten in Betriebe des allgemeinen Arbeitsmarktes zu vermitteln. Das gelingt grundsätzlich häufiger als noch vor einigen Jahren. Lange lautete das Klischee: „Einmal Werkstatt, immer Werkstatt.“ Aber das gilt nicht mehr. Arbeitsplätze finden sich typischerweise in Industrie, Handwerk und Dienstleistung. Die Eingliederung in einen Betrieb muss gut vorbereitet sein, etwa durch Beratungen mit den Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen. Die Anforderungen des Arbeitsplatzes sollten unbedingt zu den Fähigkeiten der Mitarbeiter*innen passen. Außerdem werden die Beschäftigten von uns weiter betreut.
Christiane Pollerberg, Leiterin des Fachbereichs Integration des Heilpädagogischen Zentrums Krefeld – Kreis Viersen:
